Sieben Becher

guylang —  7. Januar 2013 — Leave a comment

Ansprache von Wolfgang Zörner anlässlich der Trauerfeier am 4. Juni 1987

Wenn ich in meinem heute ländlichen Wohnzimmer am Abend Musik höre, dann fällt mein Blick auf einen Wandschrank, in dem stehen nebeneinander aufgereiht sieben kleine Zinnbecher.
Verehrte Monique Lang, liebe Freunde, werte Trauergäste, von diesen kleinen Zinnbechern möchte ich Ihnen ein wenig erzählen. Sie tragen alle einen Titel in verschiedener Schrift.

 

 

Der erste Titel lautet «Die Bettleroper»
Max Lang hat diese Oper hier in St. Gallen im Jahre 1974 dirigiert. Zutreffender wäre allerdings die Beschreibung: Er stand auf der Bühne im Lumpengewand als dirigierender Schauspieler, oder wenn Sie wollen, als schauspielernder Dirigent. Auf jeden Fall in einer für ihn sehr ungewöhnlichen Aufgabe. Und diese Aufgabe löste er mit der grössten Selbstverständlichkeit. Er verstand es, die Orchestermusiker um ihn herum zu ihnen fremden Komödiantenrollen hin zureissen. Sein Sinn für einen Humor der kleinen Geste und Andeutungen entfaltete sich in dieser Rolle, die ihm viel Raum zur Improvisation gab. Und für viele führte das zu einer überraschenden Vielfältigkeit. Sein hintergründiger, bisweilen trocken zynischer Humor ist mir nicht nur in dieser Rolle, sondern sehr oft im privaten Leben begegnet. Und wir wollen ihn in dieser traurigen Stunde auch nicht vergessen, diesen Humor. Lassen Sie mich eine Begebenheit erzählen.
Wir sind oft irgendwo hingefahren, haben uns Vorstellungen angeschaut, Sänger gehört, wollten Anregungen für den Spielplan, für unsere Arbeit finden. Und eine solche Fahrt fiel in die gleiche Zeit des ersten Ölschocks. Es gab überall auf den Strassen strenge Geschwindigkeitskontrollen und auf den deutschen Autobahnen wurden diese sogar unfairerweise in Zivil durchgeführt. Wir waren auf dem Weg nach Saarbrücken, und wir hatten es natürlich immer eilig  – meistens sind wir in der Nacht zurückgefahren – und diese sehr strengen Geschwindigkeitsbegrenzungen habe ich nicht immer ganz beachtet. Und Max Lang machte mi h darauf aufmerksam: «In Deutschland sind es teilweise Herren in Zivil», und ich sagte ihm: «Ja, die kann man aber erkennen. Da sitzen dann zwei Herren ganz entspannt, etwas gelangweilt in einem Mercedes, und das sieht man.» Und später, wenn wir auf der Autobahn waren, – der Ölschock war längst vorbei, aber die Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt es heute ja fast überall, – sagte Max Lang: «Ich sehe keine entspannten Herren im Auto». Solche Begebenheiten mit kleinen Worten und kleinen Gesten gäbe es viele zu erzählen.

Auf dem zweiten Becher steht «Attila».
Die Interpretation dieses vom hiesigen Publikum begeistert aufgenommenen Werkes wurde zum grossen und persönlichen Erfolg von Max Lang. Seine temperamentvolle Wiedergabe des jungen Verdi liess die Interpreten in jeder Aufführung zu Stürmern und Drängern der Oper werden. Aber in ganz besonders klarer Erinnerung wird mir die tiefe künstlerische Verantwortung bleiben, die Max Lang fühlte, dem Werk, und dem Autor gegenüber. Wir haben uns diese Oper, bevor wir uns zu einer Fassung für St. Gallen entschlossen haben, in Berlin angesehen und kamen zu der Überzeugung, dass die dortigen Interpreten recht getan hatten und dieser Oper einen anderen Schluss als den von Verdi vorhandenen gegeben haben. Die Gründe möchte ich jetzt nicht näher erläutern. Aber Max Lang war der Ansicht, dass das aus dramaturgischen Gründen berechtigt ist, aber es unverantwortlich sei, fremde Noten in eine Werk eines so grossen Komponisten zu tun. Er entschloss sich, oder versprach mir, den dramaturgischen Intentionen des Regisseurs gemäss einen Schluss zu finden, der von Verdi ist.
Eines Tages kam er damit, war stolz, und rückte trotzdem nicht heraus. Als ich dann die Notenblätter vor mir hatte und es mir vorspielen liess, begeistert war, war er nicht froh und sagte mir: «Darf ich das?» Ich sagte: «Was, es ist grossartig.» Und so ging das viele, viele Tage. Er hatte folgendes getan: Die letzten Akkorde von «Othello» an den Schluss des «Attila» gestellt, und sagte immer wieder zu mir: «Darf ich das? Darf ich vom reifen Verdi diese Musik, diese wenigen Akkorde zu  jungen Verdi transferieren?» Alle die, die das Werk gehört haben, werden noch wissen, dass gerade dieser von ihm gestaltete Schluss besonders beeindruckend war. Aber er ist lange im Zweifel gewesen, ob er diesen, ich möchte sagen: Kunstgriff, tun darf. Das hat mit tief beeindruckt.

«Lucia di Lammermoor» ist auf dem Becher eingraviert. Er erinnert mich an den Belcantisten, der in der Lage war, die berühmte Wahnsinnsarie über ein Konzert für Sopran und Flöte hinauszuheben und daraus ein kleines Drama innerhalb des gesamten Geschehens zu machen. Und auch hier, wie so oft an anderer Stelle, trat Max Lang mit Temperament gegen die Verstümmelung von Lieblingswerken des Publikums ein und dirigierte «Lucia di Lammermoor» vollständig: noch immer eine Ausnahme unter den Interpretationen.

Wenn ich einen Becher weiter gehe, dann sehe ich den von der Technik begeisterten Max Lang vor mir. «Faust» steht da. Nicht Goethe, sondern Gounod. Und das bedeutet damals 1976 den Einsatz der Tontechnik als Mittel der musikalischen Interpretation bis an die Grenzen der Möglichkeiten der technischen Einrichtungen des Stadttheaters. Einsatz der Technik war für Max Lang keine Belastung, sondern eine Herausforderung. Seine Fähigkeit, die Bühne nach einem zugespielten Band zu dirigieren, das noch meistens auswendig, liessen ihn ausserordentliche Situationen in der Klanginterpretation schaffen. Die Bewältigung der technischen Probleme, soweit sie die Musik betrafen, verfolgte er mit Leidenschaft. In diesem «Faust» hat er dem St. Galler Dom die Orgel über Tonband geliehen, er hat die Kirchenchöre auswärts aufgenommen, zusätzlich zum singenden Chor eingespielt, mit Verhallungen, mit technischem Aufwand, wie er vielleicht damals nur in der Unterhaltungsmusik üblich war, um dem religiösen Charakter dieses Werkes gerecht zu werden.
Aber die Technik als Leidenschaft sass in ihm, er war ja schliesslich auch Pilot und eigentlich noch mehr – er war Kunstfluglehrer.

Als von der Fliegerei Besessene haben wir beide oft in diesem Metier geschwelgt. Und ich werde dabei den stolzen Strahl in den Auge von Monique Lang nicht vergessen, wenn die Erinnerung an gemeinsame Kunstflugeskapaden wach wurde, die sie mit ihrem Max durchgestanden hat.

Es  folgt der «Fidelio»-Becher. Er trägt die Gedanken an eine für einen Dirigenten aussergewöhnliche Einstellung. Wir trafen uns in der Meinung, dass die Ouvertüre «Leonore III» innerhalb der Oper nicht aufgeführt werden dürfe. Das war kein Verzicht eines Musikers, sondern das Erkennen einer Notwendigkeit dem Dramatiker Beethoven gegenüber. Max Lang brachte kein Wenn und Aber über die Probleme des «Fidelio» auf der Bühne, sondern liess vom ersten Augenblick seine Begeisterung spüren für diese Handlung, die von einer Musik getragen wird, die, ähnlich wie erst wieder im Verismus, tiefste Gefühlsschichten aufreissen und verletzen kann. Der Schluss dieses Werkes, ohne die erwähnte Ouvertüre, ist für mich der Zusammenprall zwischen den Gefühlen von Leonore und Florestan im Jubel des Schlusses ein Eindruck gewesen, den ich bei diesem Werk, so wie ich es hier gehört habe, nie mehr erlebt habe, weil dank Max Langs Entscheidung die Dramaturgie gestimmt hat.

Und schliesslich der Becher mit der Aufschrift «Don Carlos».
Für mich war diese Produktion der Höhepunkt meiner Laufbahn als szenischer Gestalter. Es war ein Projekt, das alle Möglichkeiten des St. Galler Theaterbetriebs zu sprengen schien, ein verrückter Wunschtraum eines besessenen Direktors. Max Lang wischte alle diese Bedenken beiseite. Er, der oft ein Zweifler war, den man erst aufwecken, mitreissen musste, er war in diesem Fall von der ersten Minute an der begeisterte Mitstreiter und unermüdliche Arbeiter für die aussergewöhnliche Unternehmung. Er hat enormes leisten müssen. Wir hatten uns entschlossen, entgegen der gängigen Aufführungspraxis das Werk in seiner wirklichen Originalsprache, in Französisch zu spielen. Wir hatten uns entschlossen, gemäss unserer Linie, die wir verfolgten, das Werk weitgehend vollständig aufzuführen, doch dafür gab es kein gedrucktes Notenmaterial. Wir waren konfrontiert mit der ausserordentlichen Länge – kurz: ein Stück, das den hiesigen Rahmen zu sprengen schien. Am Ende war es Max Lang, der, glaube ich, das Publikum die Länge vergessen liess, der das Orchester mitreissen konnte zu dieser ungewohnt anstrengenden Arbeit und der mit seiner durchziehenden musikalischen Interpretation – wir hatten es ihm leicht gemacht: er brauchte auf keine Umbauten zu warten – einen «Don Carlos» auf die Bühne zu stellen, der keine italienische Oper im Sinne des schon erwähnten «Attila» war, sondern ein ganz anderes Werk, vielleicht nahe dem, wie es von Verdi in Paris geschrieben worden war.

Diese sieben Becher waren ein Geschenk von Max Lang zu meinem Fortgang aus St. Gallen. Versehen mit dem liebevollen Detail, dass alle Titel in der Schrift den Programmhefttiteln nachempfunden waren. Diese Produktionen tragen für mich den Stempel des Besonderen, vom gängigen Interpretationsschema abweichend, weil Max Lang nie ein Werk einfach interpretierte, sondern es von Grund auf neu erarbeitete, und zwar gemeinsam erarbeitete. Der Wunschtraum vieler Regisseure, im heutigen Musiktheaterbetrieb nahezu unerfüllbar, erfüllte sich bei jeder Produktion mit ihm: die Zusammenarbeit von der ersten Probe an. Jedes Mal bemühten wir uns eine gemeinsame Interpretation zu finden, in der Musik und Szene ineinander verflochten sind. Max Lang war für mich nicht ein Operndirigent, sondern ein musikalischer Szeniker. Und wir trafen uns in der Auffassung, dass nicht in erster Linie dem Komponisten zu dienen sei, sondern dem Werk, das heute und durch heutige Interpreten zum grösst möglichen Erfolg zu führen sei. Es gäbe unzählige Beispiele für Situationen auf der Bühne, die nur durch das szenische Verständnis dieses Dirigenten möglich waren. Aber eine lassen Sie mich bitte herausgreifen, die mich vielleicht am tiefsten berührt hat:
Im «Don Carlos» verlangt im Autodafé der Marquis von Posa von Don Carlos den Degen, nachdem Don Carlos auf seinen Vater mit diesem Degen losgehen wollte. Die Pause, die in dieser Situation von Max Lang gesetzt wurde und das darauf kaum hörbar einsetzenden Freundschaftsthema haben, so glaube ich, in jeder Aufführung fast eine Zerreissprobe hervorgerufen. Nach der Premiere kam jemand zu mir, de ich nicht kannte, und sagte: «An dieser Stelle hebe ich’s nicht ausgehalten, ich habe gedacht, jetzt bricht alles zusammen,»
Viele ähnliche Situationen hat er so gefühlt, dass eben auf der Szene Situationen spürbar wurden, die nicht der Regisseur durch Handlungsanweisungen erzeugen kann, oder die rein in Text und Noten stehen.

Und dann hab ich mir gedacht, die Erinnerung verklärt so manches, ich bin jetzt sieben Jahre von St. Gallen weg – doch dem ist nicht so. Ich kann jederzeit in den Schrank greifen und die Tonbänder anhören, und das tue ich manchmal in sehr kritischer Absicht, und bin dann in den meisten Fällen der Überzeugung, dass nichts verklärt wird: so war es eben.
Liebe Familie Lang, die Trauer um Max Lang kann Ihnen niemand abnehmen. Aber vielleicht lässt es sich leichter tragen, wenn Sie mit Stolz an das denken, was er in seinen Jahren in St. Gallen, in grosser Bescheidenheit, in dieser Stadt, für diese Stadt und aus dieser Stadt als Komponist, Dirigent und Mann des Theaters geleistet hat.
Und wenn Sie richtig mitgezählt haben, habe ich sechs Titel genannt und sprach von sieben Bechern. Einer trägt keine Aufschrift und Max Lang hat mir gesagt: «Das ist der Becher für unsere zukünftigen Projekte.» Wir haben Projekte gehabt: wir sprachen von einer Oper «Caligula», die wir gemeinsam machen wollten. Es hat ein Ballettlibretto von mir gegeben. Es sind Projekte geblieben. Ich werde mir erlauben, diesen Becher auf seinen Arbeitsplatz zurückzustellen.

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